...stark wie der Tod ist die Liebe.

Vorauer Antiphonar - Hildegard von Bingen - Heloise/Abaelardus
Choralschola des Instituts für Kirchenmusik und Orgel
Leitung: Vilma Adrija CEPAITE, Krisztina GÁBOR, Antanina KALECHYTS, Réka MIKLÓS
2009 (Vol. 35, 1 CD)


 

Zu den Gesängen und ihren Quellen

Die Kirche der Spätantike und des Mittelalters hat die Bibel immer in vielschichtiger Weise gelesen und verstanden. Es gab nicht nur eine Weise der Schriftauslegung, sondern deren mehrere, die den verschiedenen Sinnebenen der Texte gerecht werden sollten. Zum Vordergründigen gesellte sich immer auch etwas Hintergründiges. Neben dem wörtlichen Verständnis legte man die Bibeltexte in Hinblick auf den Glauben im Heute (Allegorie), in Hinblick auf den Lebenswandel (Moral) und in Hinblick auf die Zukunft im Himmel (Anagogie) aus. Für die Liturgie spielten vor allem der zweite und der vierte der genannten Aspekte eine zentrale Rolle. Das Hohelied ist in dieser Breite des Verständnisses eine gewichtige Grundlage der gregorianischen Gesänge vor allem an Frauenfesten (Maria, Jungfrauen, Ehefrauen). [...] 
Darüber hinaus haben sich auch Komponistinnen in späteren Phasen gregorianischer Gesänge von der Welt dieser Texte zu Neuschöpfungen inspirieren lassen, wie z. B. Hildegard von Bingen oder Heloise, zusammen mit ihrem geliebten Petrus Abaelardus. Die Zusammenstellung dieser CD präsentiert – zum Großteil direkt aus den alten Quellen – die Highlights dieses Repertoires, das zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert entstanden ist, in einer vielschichtigen und abwechslungsreichen Weise – auch unter Einschluss von archaischer Mehrstimmigkeit. Die CD ist das Dokument eines akademischen Laboratoriums an einer Kunstuniversität. [...]
Die genannten Gesänge stehen im Codex im Anhang an die Marienfeste vom 15.8. und 8.9. Der Platz der Gesänge innerhalb der Handschrift ist eine Botschaft: Maria, die neue Eva, wird im Geiste einer vielschichtigen Bibelauslegung als Sinnbild der Kirche, welche sich als Braut Christi versteht, mit jenen Texten besungen, die von inniger Liebe, tiefer Verbundenheit und der Sehnsucht nach Vereinigung mit dem/der Geliebten sprechen. Diese Gesänge zeigen den Glauben als ein den Menschen in seinem Innersten ergreifendes Beziehungsgeschehen, als eine Erfahrung, die an den Kern der Person rührt. Menschliche Liebe in all ihren Dimensionen ist kein Gegensatz zu einer tiefen Gottesbeziehung. Bei beidem geht es letztlich um eine beglückende Hingabe an ein DU. So können und wollen die Texte, welche oft im schwärmerischen Kleid einer späten Gregorianik mit großer Emotion erklingen, gleichermaßen direkt wie im übertragenen Sinn verstanden werden. Sie geben zu verstehen, dass Gott, der nach dem Zeugnis der Schrift selber nichts anderes als die Liebe ist, nur von liebenden und zur Hingabe fähigen Menschen erfahren und erkannt werden kann. Der Schmerz der Trennung und die Sehnsucht nach dem Zusammensein sind ein zentrales Thema des Hoheliedes und vieler seiner Vertonungen in Antiphonen, Responsorien und anderen Gesängen. Dies ist Ausdruck des menschlichen Strebens nach Vollendung in der Erfahrung einer unvollkommenen und brüchigen Existenz. Die Liebe zu Gott und zu Menschen zeigt jedoch, dass der Himmel schon auf Erden anbrechen kann. Das ist eine Botschaft, die viele Zeitgenossen so gar nicht mit dem „finsteren Mittelalter“ verbinden, das
doch eine unglaublich lebensfrohe Zeit war, gerade weil auch Leiden und Tod nicht verdrängt worden sind, sondern als die andere Seite eines Lebens in Fülle im kollektiven Bewusstsein bleiben durften. [...]
Hildegard von Bingen hat auf Grund von Hoheliedtexten Leben und Martyrium der heiligen Ursula besungen, welche in Köln nicht weit entfernt vom Hildegardkloster bei Bingen auf dem Weg zur Vermählung durch ihre Ermordung die Vollendung im Himmel gefunden hat. [...]
Am Ende des Programms steht der Lobgesang Mariens, das Magnificat, eingebettet in Antiphonen aus dem Hohelied, welche in der Tradition der christlichen Liturgie als prophetische Worte über Maria, die vollkommene Frau gesehen worden sind. Die Kombination der einzelnen Elemente dieses Stückes fasst nochmals wesentliche Stationen des „Liedes der Lieder“ zusammen.
[...] Bliebe jetzt noch nach aller Allegorie und Anagogie die moralische Nutzanwendung dieser Gesänge: Wir wollen darauf abzielend mit den Worten jener Kinderstimme antworten, die weiland versucht hatte, den damals noch unheiligen Augustinus auf bessere Gedanken zu bringen. Sie sagte: tolle, lege: nimm das Buch und lies es. Es könnte ja auch das Schir Haschirim sein.

Franz Karl Prassl, Institut für Kirchenmusik und Orgel 


 

Titelliste:
 

  • Antiphona: Osculetur me osculo oris sui (Hld 1,1)
    (A-VOR 287) [8:34)

  • Ingressa:  Surge propera columba mea (Hld 2,10-12)
    (I-BV 40) [2:35]

  • Responsorium:  Quae est ista, quae processit (Hld 3,6; 6,9) 
    (CH-SGs 391) [4:04]

  • Lectio in organis:  Dum esset rex in accubitu suo (Hld 1,11-2,2)
    (nach HR-Za MR 10) [3:25]

  • Hildegard v. Bingen: De sancta Ursula Responsorium: (1098-1179) Favus distillans Ursula virgo fuit (nach Hld 4,11) 
    (D-WIl 2) [5:37]


Vesperae in Assumptione Beatae Mariae Virginis iuxta ordinem Salisburgensem
(A-VOR 287)

  • 1. Antiphona Ecce tu pulchra es (Hld 1,14)
    Psalmus Laudate pueri Dominum (Ps 112/113) [1:05]

  • 2. Antiphona Sicut lilium inter spinas (Hld 2,2)
    Psalmus Laudate Dominum omnes gentes (Ps 116/117) [1:06]

  • 3. Antiphona Descendi in hortum nucum (Hld 6, 10.12)
    Psalmus  Lauda anima mea Dominum (Ps 145/146) [2:08]

  • 4. Antiphona Anima mea liquefacta est (Hld 5, 6-8) 
    Psalmus Laudate Dominum quoniam bonus est psalmus Ps 146/147A) [2:56]

  • 5. Antiphona Tota pulchra es, amica mea (Hld 2,11.12; 4,7.8.11) 
    Psalmus  Lauda Ierusalem Dominum (Ps 147/147B) [3:43]

  • Lectio in organis Vulnerasti cor meum (Hld 4,9-15)
    (nach A-Gu 29) [3:51]

  • Responsorium  Vidi speciosam sicut columbam (Hld. 3,6) 
    (CH-SGs 391) [4:29]

  • Heloise/Abaelardus Sequentia: Epithalamica dic sponsa cantica
    (1095-1164; 1079-1142) (F-PN n.a.lat. 3126) [6:40]

  • Alleluia Pulchra es amica mea (Hld 6,3)
    (I-Ac 695) [2:04]

  • Antiphona Dilectus meus clamavit ad me (Hld 8,6)
    (A-VOR 287) [2:07]

  • Antiphona Soror nostra parvula est (Hld 8,8.9)
    (A-VOR 287) [1:58]

  • Lectio in organis Pone me ut signaculum super cor tuum (Hld 8,6.7)
    (nach I-IVc 71) [1:59] 


Antiphonae de Canticis cum Cantico Evangelico Magnificat (CH-SGs 391)

  • Antiphona Unguentum effusum nomen tuum (Hld 1,3)
    Magnificat – Et exultavit (Lk 1,46-55) [0:44]

  • Antiphona Nolite me considerare quod fusca sim (Hld 1,6)
    Quia respexit – Quia fecit [1:02]

  • Antiphona Sicut malum inter ligna silvarum (Hld 2,3)
    Et misericordia – Fecit potentiam [0:56]

  • Antiphona Fulcite me floribus (Hld 2,5)
    Deposuit – Esurientes [0:45]

  • Antiphona Pulchra es et decora Hld (6,4)
    Suscepit Israel – Sicut locutus est [0:54]

  • Antiphona Quae est ista quae ascendit sicut aurora consurgens (Hld 8,5)
    Gloria Patri – Sicut erat [1:08]

  • Virgo prudentissima (Hld 8,5) [0:53]